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Tränen von und für Federer

Aktualisiert: 26. Sept. 2022

Kurz nach dem gemeinsam bestrittenen Doppel sitzen Roger Federer und Rafael Nadal in der O2-Arena nebeneinander auf der Bank und schluchzen mit feuchten Augen. Es ist nicht die knappe Niederlage im Rahmen des Laver-Cups, die dermassen schmerzt, sondern das Bewusstsein, dass die Karriere des Baselbieters vorbei ist. Endgültig. Auch ich habe in diesem Moment daheim vor dem Bildschirm Tränen in den Augen.


Denn Federer gehörte über zwei Jahrzehnte lang zu meinem Leben, ähnlich wie das morgendliche Schuhbinden. Wenn er spielte, sah ich zu, wenn er sprach, hörte ich zu. Und wenn er nicht spielte oder sprach, las ich über ihn oder beobachtete seine Konkurrenten. Um Federer journalistisch zu begleiten, bereiste ich fünf Kontinente. Ich war – und das ist nur eine kleine Auswahl – live dabei, als er 2004 in Melbourne erstmals die Nummer 1 wurde, als er 2008 in Wimbledon bei einbrechender Dunkelheit gegen Nadal den epischen Final verlor, als er 2009 in Miami meines Wissens letztmals in einem Match einen Schläger zertrümmerte, als er im selben Jahr in Paris den Karriere-Grand-Slam komplettierte, als er 2014 in Lille trotz Rückenbeschwerden im Davis-Cup-Final mit einer brillanten Leistung den entscheidenden Punkt für die Schweiz holte, als er 2020 in Kapstadt im Rahmen des Match in Africa mit Nadal den Zuschauerrekord im Tennis aufstellte.

Als vielleicht grösste Leistung des Baselbieters erachte ich indes trotz seiner Erfolge, dass er trotz des ewigen Rummels um seine Person, trotz der Heldenverehrung, trotz seines Vermögens in dreistelliger Millionenhöhe die Bodenhaftung nicht verloren hat, sondern authentisch und normal geblieben ist. Ja, er reist zuweilen im Privatjet und mit Kindermädchen herum, doch im zwischenmenschlichen Kontakt handelt er getreu seinem Motto: «Es ist nett, wichtig zu sein, aber es ist wichtiger, nett zu sein.» Beispiele gefällig? Nach einem Interview im Vorfeld der Davis-Cup-Partie Schweiz - Portugal in Bern kehrte er noch einmal kurz auf die Bellevue-Terrasse zurück und sagte: «Selbstverständlich gehen die Getränke auf mich.» Und als ich ihn einst in Halle zu einem Interview traf, erkundigte er sich nach meiner Anreise. Es war mehr als gespieltes Interesse, denn der Superstar fragte detailliert nach, wo ich habe umsteigen müssen, wie viele Leute es gehabt habe und wann ich seinetwegen aufgestanden sei. Und als Coach Severin Lüthi zu uns stiess, wollte Federer mitten im Interview wissen, ob dieser den Squash-Match gegen Philipp Kohlschreibers Physiotherapeuten gewonnen habe. Einer wie du und ich.


Seine Interviews und Pressekonferenzen waren stets interessant. Im Gegensatz zu vielen anderen versteckte er sich nicht hinter Plattitüden, sondern sagte ehrlich seine Meinung, wenn auch oft mit einer gewissen Zurückhaltung. Weil er nichts vorspielen musste, trat er in keine Fettnäpfchen. Klar, manchmal hätte ich es gern gesehen, er hätte klarer Stellung bezogen, selbst wenn das seinen geschäftlichen Interessen zuwidergelaufen wäre. So vermied er es zum Beispiel, China für den grausamen Umgang mit der früheren Tennisspielerin Peng Shuai zu kritisieren. Deshalb stelle ich ihn nicht auf eine Stufe mit Muhammad Ali, der für seine politische Überzeugung eine Gefängnisstrafe riskierte.

Andererseits ist für mich unbestritten: Roger Federer ist der grösste Spieler in der Tennisgeschichte, der GOAT, wie es im englischsprachlichen Raum heisst.


Rafael Nadal und Novak Djokovic haben zwar noch mehr Grand-Slam-Titel gewonnen, aber Grösse lässt sich nicht allein an Erfolgen festmachen. Keiner hat den Tennissport geprägt wie der 41-Jährige, keiner hat mehr zu dessen Popularität beigetragen, keiner hat eleganter, ästhetischer gespielt, kein anderer hat die Massen weltweit derart in seinen Bann gezogen. 13-mal wurde RF von seinen Berufskollegen zum integersten, fairsten Tennisprofi gewählt – und von der globalen Fangemeinde in einer Online-Wahl seit 2003 immer zum beliebtesten Spieler!

Roger Federer bescherte mir zwar zahlreiche stressige und lange Arbeitstage und -nächte, aber es war ein riesiges Privileg, ihn kennenzulernen und seine Karriere aus der Nähe zu verfolgen. Ich versuchte immer, journalistisch die nötige Distanz zu wahren und objektiv zu berichten. Doch höchstwahrscheinlich wird es in der Schweiz zu meinen Lebzeiten keinen Sportler mit einer derartigen mehr Ausstrahlung geben, vermutlich wird nie mehr jemand so schön Tennis spielen. Daher schäme ich mich meiner Tränen nicht!

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